Nr. 597 vom 29.11.2024
Starkes Bündnis gegen sexualisierte Gewalt - Überwältigendes Interesse an Fachtag "Viele Köche… - gemeinsam besser!"
Bis auf den letzten Platz belegt - der Große Sitzungssaal im Aalener Landratsamt mitsamt der Empore war brechend voll. Über 250 Fachkräfte aus Heimeinrichtungen, Kindergärten, Schulkindbetreuung, Beratungsstellen, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendamt, kirchlichen Verbänden, Diakonie, Caritas, Behinderteneinrichtungen und Fachverbänden informierten sich anhand von 14 Fachvorträgen über die interdisziplinäre Vernetzung in Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.
Die Organisatorinnen des Fachtages Bettina Seipp und Astrid Hark-Thome, das verantwortliche Tandem des Starken Bündnisses gegen sexualisierte Gewalt im Ostalbkreis, waren rundum zufrieden mit dem großen Interesse und den durchweg positiven Rückmeldungen. Stimmen aus dem Publikum nach sieben Stunden aufmerksamen Zuhören: „Selten so eine dichte, informative Veranstaltung gehabt!“, „Anstrengend, aber sehr gelungen! „Viel Fachkompetenz gebündelt bei einer Veranstaltung! „Es hat sich gelohnt, heute hier zu sein!
Vorab hatte Landrat Dr. Bläse als Schirmherr des Starken Bündnisses in einem Kurzinterview auf Instagram deutlich gemacht, wie wichtig dem Landkreis, aber auch ihm persönlich der Kampf gegen diese Form der Kindesmisshandlung ist. Die Jugendamtsleiterin, Jutta Funk, bekräftigte die wichtige Arbeit des Bündnisses in ihrer Begrüßungsrede: „Jedes missbrauchte Kind ist eines zu viel!“
Cora Bures, Vorstandsfrau der Landeskoordinierung spezialisierter Fachberatungsstellen Baden-Württemberg und Geschäftsführerin bei Brennnessel Ravensburg e.V., beschrieb die Dynamik innerhalb des geschlossenen Familiensystems bei Kindesmissbrauch. Die Fallzahlen zeigten, dass es neben den 18.497 polizeilich bekannten kindlichen Opfern im Jahr 2023 ein riesiges Dunkelfeld mit ca. einer Million missbrauchter Kinder in Deutschland gäbe. Der Fall aus Staufen habe gezeigt, wie wichtig ein koordiniertes Vorgehen in Verdachtsfällen sei: „Kinderschutz braucht ein Helfersystem mit klaren Absprachen und Zuständigkeiten“.
611 Kinderschutzfälle im Ostalbkreis
Roland Schlipf und Philipp Gruel, Mitarbeiter des Jugendamtes Ostalbkreis, erläuterten die gesetzlichen Vorgaben und anhand von Fallbeispielen das konkrete Vorgehen des Allgemeinen Sozialen Dienstes bei Verdachtsfällen. 2023 gab es im Ostalbkreis 611 Kinderschutzfälle, bei denen dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte mitgeteilt wurden. Wichtig seien hier die
Inaugenscheinnahme der betroffenen Kinder und der Familiensituation mit zwei Mitarbeitenden. Die Absprachen mit der Familie und das Erstellen eines individuellen Schutzkonzeptes für das Kind haben Vorrang vor anderen Fällen. Manchmal müsse das Familiengericht zur weiteren Klärung angerufen werden.
Die beiden Familienrichterinnen Dr. Tanja Gunder und Melanie Kordeuter aus Aalen erläuterten die gesetzlichen Bestimmungen, nach denen sie in Kindeswohlgefährdungen und in Trennungskonflikten der Eltern vorgehen. Im Unterschied zu der Notwendigkeit der strengen Beweissicherung in Strafverfahren gehe es in einem Abwägungsprozess darum, ob die „Gefährdungslage nach Ausmaß und Wahrscheinlichkeit“ ein staatliches Eingreifen, das immer „verhältnismäßig sein müsse“, erforderlich mache. Ein staatlicher Eingriff könne nur bei „gewichtige Anhaltspunkten“, die laut BGH Urteil „plausibel, tatsachengestützt und konkret“ sein müssen, erfolgen. Reine Verdachtsvermutungen reichten hierfür nicht.
„Nichts ist mehr so, wie es vorher war“, so die Erfahrung von Psychologin Astrid Hark-Thome in ihrem Fachimpuls über die Folgen für Betroffene und deren Angehörige. Sie berichtete über die niederschwellige Hilfe, die die Kontaktstelle gegen den sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen anbietet. Diese ist kostenlos und die Mitarbeitenden unterliegen einer strengen Schweigepflicht. Fachkräfte, die zwischen der Angst, Fehler zu machen und dem enormen Handlungsdruck stehen, können sich Handlungssicherheit durch individuelle Fachberatung holen.
Erfahrene Fachkräfte bilden Pool mit Spezialwissen
Frank Hutter, Koordinator Präventiver Kinderschutz, erklärte, was es mit einer insoweit erfahrenen Fachkraft auf sich hat und wer Anspruch auf eine solche Beratung habe bzw. verpflichtet sei, diese in Anspruch zu nehmen. Eine Besonderheit des Ostalbkreises: Anfang 2024 wurden 29 Fachkräfte zu einem Pool an Fachkräften mit Spezialwissen ausgebildet. Zweite Besonderheit im Ostalbkreis: beim SMET - Sexuelle Missbrauch Experten Team können online im Zweiwochenturnus Verdachtsfälle anonymisiert von Fachkräften im Mehrperspektivenblick besprochen werden.
Soforthilfe nach Vergewaltigungen
Dr. Evelyne Nicola, Oberärztin der Gynäkologie des Ostalb-Klinikum Aalen, berichtete von der Möglichkeit, sich nach Vergewaltigungen medizinische Soforthilfe zu holen. Auch wenn das Opfer sich zunächst nicht zu einer Anzeige durchringen kann, können die Verletzungs- und DNA Spuren der Tat ein Jahr gerichtsverwertbar gesichert werden: „Bitte schnell und sofort in die Klinik kommen, ohne wichtig Tatspuren durch Duschen und Umziehen zu vernichten!“ Daneben klärte sie über individuelle Besonderheiten beim Jungfernhäutchen auf, das selbst ohne Gewalterlebnisse anatomisch sehr differiere und ohne Gewalthandlung auch verändert sein könne.
Eva-Maria Markert vom Sozialdienst im Ostalb-Klinikum schloss ihren Vortrag zum Kinderschutzteam der Kinderklinik mit dem bewegenden Appell: „Nur hinsehen, zuhören, mutig fragen und besonnen handeln hilft, unsere Kinder zu schützen!“
Im Fachvortrag der Therapeutin Tina Bresecke aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie Ellwangen wurde deutlich, wie einschneidend und belastend für Kinder das Erleben eines sexuellen Missbrauchs sein kann. Es hänge wesentlich von der Resilienz der betroffenen Kinder und der Unterstützung der Familien und des sozialen Umfeldes ab, wie ein solch einschneidendes Erlebnis verarbeitet werde. Nicht immer müsse daraus eine Posttraumatische Belastungsstörung entstehen.
So wird nach Sexualstraftaten ermittelt
Nach der Mittagspause wurde das Vorgehen bei Ermittlungen bei Sexualstraftaten erläutert. Annette Schindele von der Kriminalpolizei Aalen beschrieb Schritt um Schritt, was bei einer Anzeige passiert und wie die Polizei z.B. bei der Auswertung von Handydaten oder der Sicherung von DNA Spuren ermittelt. Sehr bedeutsam sei die genaue Protokollierung, wenn ein Opfer das erste Mal über das Erlebte z.B. im Kindergarten oder der Schule spreche.
Alexandra Henning, Staatsanwältin aus Ellwangen führte aus, welche strafrechtlichen Paragrafen in den fiktiven Beispielen des Fachtags in Betracht kommen. Besonderes Augenmerk legte sie auf aussagepsychologische Begutachtung, die in Fällen notwendig werde, wenn man nicht sicher davon ausgehen könne, dass das Gesagte aus konkreten Erlebnissen beruhe, sondern fremdsuggeriert sei oder in Trennungskonflikten manipulativ eingesetzt werde.
Werner Stanislowski vom Weißen Ring berichtete von vielen unbürokratische Hilfen für Opfer von Gewalttaten, die der Verein, der 1976 von Eduard Zimmermann gegründet wurde, leistet. Neben Checks für kostenlose Erstberatung und therapeutischen Hilfen wurden auch die konkrete Unterstützung bei Antragstellung von Opferentschädigung und Prozesskostenhilfe beschrieben.
Christina Bellmann, Fachanwältin mit eigener Kanzlei in Schw. Gmünd, stellte vor, was sie als juristischer Beistand für Opfer in Strafverfahren erreichen könne: „Akteneinsicht und ein veränderter Status vor Gericht, sowie Einklagen von zivilrechtlichen Ansprüchen“ helfe, dass Verfahren für Opfer weniger belastend seien.
Susanne Ibrahimovic, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin berichtet eindrücklich von ihrer Arbeit als neutrale Prozessbegleiterin des Kindes: „Das Kind kann vorher den Gerichtssaal anschauen, weiß um die Sitzordnung und ich bin immer zwischen Beschuldigtem und Opfer - alleine das reduziert schon manchmal den Druck und die Angst, die so ein Verfahren machen kann.“
Seline Hermann und Anne Lipps vom Institut Systegra aus Stuttgart, berichteten über ihre Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit mit Sexualstraftätern im Alter zwischen 14 und 80 Jahren. Wichtig dabei sei neben der Verantwortungsübernahme des Täters für seine Taten, auch der Einbezug der Familie und die Rückfallprophylaxe: „Jeder Täter, der erfolgreich diese Therapie macht, bedeutet konkret, dass weitere Kinder geschützt werden.“
Im Foyer im 1. Stock war begleitend die Wanderausstellung „Ich verbrenne von innen!“ zu sehen. Diese zeigt mit Bild und Texttafeln das Erleben von Betroffenen. Aktuell ist die Ausstellung noch im Evangelischen Gemeindehaus in Bopfingen zu sehen.
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