Nr. 311 vom 19.06.2024
Starker Zusammenhalt der Gemeinde Hüttlingen: Eine Geschichte von Dankbarkeit und Tatendrang
Nach Kriegsausbruch flüchtete Familie Hlushchenko mit ihren beiden Töchtern nach Deutschland und fand Zuflucht und Unterstützung in Hüttlingen – eine Gemeinde die zeigt, dass Zusammenhalt, Toleranz und Aufnahmebereitschaft nicht nur einen Zufluchtsort, sondern eine neue Heimat hervorbringen können.
Mit offenen Armen hat die Gemeinde die Hlushchenkos vor eineinhalb Jahren nach ihrer Flucht aus der Ukraine empfangen. Direkt nach Kriegsausbruch flüchteten Nataliia und Andrii Hlushchenko mit ihren beiden Töchtern, Anna und Vira. "Wir hatten genau fünf Minuten, um unsere Sachen zu packen und ins Auto zu steigen", berichtet die 49-Jährige Nathaliia Hlushchenko. Nach zehn Tagen unter Beschuss flüchtete die Familie, bepackt mit einem Rucksack voll Dokumente und Katze Mika in der Tragetasche. Zunächst ging die Flucht in den westlichen Teil der Ukraine. Nach vier Monaten suchten die Hlushchenkos auf eigene Faust und mit Hilfe einer Anzeige eine Unterkunft in Deutschland – mit Erfolg. Auf ihre Annonce meldete sich Thomas Fürst, ein altengesessener Hüttlinger, der der Familie nicht nur eine Unterkunft bot, sondern den Grundstein für ein neues Zuhause legte.
"Thomas hat ein gutes Herz", erzählt Nathaliia über den Hüttlinger. "Ich habe nicht geweint, als unsere Wohnung zerstört wurde, aber als die Behördengänge in Deutschland anstanden, war ich überfordert", so Hlushchenko. Fürst habe ihr desbezüglich nicht nur geholfen und sie beruhigt, sondern auch dafür gesorgt, dass ihre Kinder und Mika sich wohl fühlen. Ihre 24-jährige Tochter Anna erinnert sich an gemeinsame Spiel- und Kochabende, bei denen mit Hilfe von Händen, Füßen und Smartphone kommuniziert wurde. "Thomas spricht kein ukrainisch und nur ein bisschen englisch. Am Anfang war es wirklich schwer miteinander zu sprechen, aber inzwischen ist er wie ein Opa für uns", so Anna Hlushchenko. Das Erlernen der deutschen Sprache habe etwas Zeit benötigt, schnell funktioniert habe aber die Einführung in die schwäbische Küche, erzählt sie begeistert. Jeden Tag wurde gemeinsam gekocht, wurden Spätzle geschabt und Maultaschen gefüllt.
Insgesamt sechs Monate lebte die Familie bei Thomas Fürst. Im Anschluss fanden sie mit Hilfe von Kirchenpflegerin Christa Schmid eine Wohnung – in unmittelbarer Nähe von Thomas Fürst. Bei dem Umzug in die eigene Wohnung, den notwendigen Renovierungsarbeiten und der Ausstattung arbeitete die ganze Straße zusammen. Die Beziehung zwischen den Hlushchenkos und Fürst ist nach wie vor eng und die Familie freut sich, dem Hüttlinger inzwischen auch etwas zurückgeben zu können. "Wir kümmern uns um Thomas, wenn er krank ist und Hilfe braucht", erzählt Anna Hlushchenko.
Anna und Nataliia Hlushchenko
Anna Hlushchenko, die in der Ukraine als Speditionskauffrau in der Logistik tätig war, besucht momentan einen Sprachkurs. Noch im Jahr 2024 möchte sie mit einer Ausbildung in Deutschland beginnen. "Ich kenne diese Branche und möchte dorthin zurück", so die älteste Tochter der Familie Hlushchenko. Natürlich wäre ein direkter Einstieg toll, aber ihr sei auch bewusst, dass die Abläufe und Strukturen in Deutschland sich von denen in der Ukraine unterscheiden. "Ich sehe es als Chance, die Branche auch hier kennenzulernen und meine Sprachkenntnisse zu erweitern." Derzeit bewirbt sie sich mit viel Engagement auf einen Ausbildungsplatz, denn Eigenständigkeit ist der jungen Ukrainerin besonders wichtig. "Ich musste früh eigenständig sein. Mein Vater ist gesundheitlich stark angeschlagen und ich möchte meine Familie so schnell wie möglich unterstützen." Der familiäre Zusammenhalt spielt bei den Hlushchenkos eine besondere Rolle. Die Erkrankung von Andrii Hlushchenko, der Krieg, die Flucht und der Neuanfang in Hüttlingen haben die Familie noch enger zusammengeschweißt.
"Wir haben das alles nur durchgestanden und ausgehalten, weil wir zusammengehalten haben und so viel Unterstützung erfahren haben", betont Nataliia Hlushchenko. Deutlich zu erkennen sind jedoch auch der Tatendrang und die Motivation der Familie, ein eigenständiges Leben in Deutschland zu führen. Nataliia hat bereits kurze Zeit nach der Ankunft in Deutschland neben dem Sprachkurs an der Anerkennung ihres Berufes "Erzieherin" gearbeitet. Nach einem Jahr Praktikum im Kindergarten Arche Noah und 240 Arbeitsstunden an der Alemannenschule Hüttlingen wurde ihr Beruf in Deutschland anerkannt. Seit Dezember letzten Jahres kann sie daher im Kindergarten St. Josef in Hüttlingen arbeiten. "Ich wurde toll von meinen Kollegen im Kindergarten unterstützt und freue mich, dass ich nun wieder richtig arbeiten kann", erzählt Nataliia mit Tränen in den Augen. Unterstützung hat die Ukrainerin nicht nur im Kindergarten erhalten, sondern auch privat. Kollegen haben in der Anfangszeit Geschirr und auch Kleidung an die Familie weitergereicht. "Wir sind unendlich dankbar für all die Unterstützung und die Menschen die wir auf unserem Weg kennenlernen durften", so Nataliia Hlushchenko.
Vira Hlushchenko
Diese Erfahrung kann auch ihre jüngste Tochter, die 18-jährige Vira teilen. Die Schülerin besuchte in der Ukraine die 11.Klasse und wurde nach Ankunft in die 10. Klasse der Alemannenschule Hüttlingen eingestuft. Täglich lernte die engagierte Ukrainerin im Anschluss an den Unterricht vier Stunden eigenständig. "Am Anfang wusste ich nicht, wie ich einen Abschluss in Deutschland schaffen soll, aber dann sagte mir meine Englischlehrerin, dass sie an mich glaubt und ich bekam wieder Mut", so Vira. Auch ihre Mitschüler glaubten fest an die junge Ukrainerin und unterstützten sie tatkräftig. "Bei meiner Abschlussfeier haben alle gejubelt." Vira Hlushchenko schaffte nicht nur den mittleren Abschluss mit sehr guten Noten, sondern besucht seit September 2023 das Sozialwissenschaftliche Gymnasium in Aalen. Wohin die berufliche Reise gehen soll, steht noch nicht fest. Ein Studium der Psychologie oder Pädagogik könne sie sich gut vorstellen, so Vira.
Wir sind alle aus demselben Teig "Бути з одного тіста"
Auf die Fragen, ob sie in Hüttlingen bleiben wollen und sie ihr altes Zuhause vermissen, sind sich die Hlushchenkos einig: die Gemeinde ist ihre zweite Heimat geworden und auch wenn ihnen vor allem ihre Angehörigen in der Ukraine fehlen, so sind wir Menschen doch alle aus dem gleichen Teig gemacht. "Wir wurden so toll aufgenommen und unterstützt. Die Menschen hier sind sehr herzlich und erinnern mich stark an meine Freunde und Familie in der Ukraine", so Nataliia Hlushchenko.
Eindrucksvoll zeigt die Gemeinde am Kocher, dass Integration nicht nur Spracherwerb und Arbeitsaufnahme bedeutet, sondern ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft. Schule, Kirche, Nachbarschaft und die Hilfsbereitschaft einzelner Menschen sind ebenso ausschlaggebend wie auch die Offenheit und Bemühungen seitens der Geflüchteten.
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